Musik zum Sonntag (XXIII)

Bach-Interpretationen, 1

In den nächsten vier Wochen werde ich einige Neuinterpretationen von Werken Johann Sebastian Bachs vorstellen, des Großmeister der Kontrapunktik und der Innerlichkeit. Es ist meine Überzeugung, dass man große Musik an ihrer Überzeitlichkeit erkennen kann, daran also, dass sie auch nach Jahrhunderten noch aktuell zu klingen vermag und nicht im Museum der Musikgeschichte abgelegt werden kann. Bach ist dafür meiner bescheidenen Ansicht nach das leuchtendste Beispiel.

Interpretationen, das legt ja schon in diesem Begriff, sind immer Vermittlungen zwischen dem (möglicherweise sehr alten) Notentext und unserer Gegenwart. Die Vorstellung, sich auf einen dieser Standpunkte allein zurückziehen zu können, ist ja aussichtslos: Weder hat man Zeitmaschinen zur Verfügung und kann Bach selber beim Proben und Musizieren zusehen noch kann man das historische Erbe ganz verneinen: Bach auf dem Synthesizer ist eben dennoch Bach, ein Relikt vergangener Tage, das in unser Jetzt hineinragt.

Unsinnig ist natürlich auch die Idee einer perfekten Interpretation. Interpreten eröffnen immer, sozusagen qua Definition einen Blick auf einen Text, im besten Fall einen Blick, den man zuvor nicht kannte. Sie betonen, sie verzerren, sie wenden Wissen an, das der Komponist nicht hatte, dafür übersehen sie Dinge, die der Komponist intendierte, usw. Das ist das Wunderbare großer Musik: Dass sie jeden, durch den sie erklingt, anders sprechen lässt und doch sie selbst bleiben kann.

Diese Aufnahme der „Dorischen“ Toccata von Jean-Patrice Brosse ist ein wunderbares Beispiel für all das oben Gesagte. Zu schnell, zu schnell, sagen Kenner, so könne man Bach nicht spielen. Ich aber sage: warum nicht? Ich habe mir viele Einspielungen dieser Toccata angehört, und keine hat mich so vom Hocker gerissen wie diese.

Brosse hat das gesamte akustische Programm der Moderne durch sich hindurchlaufen lassen. Er kennt Metal, er kennt Wagnersche Orchesterfülle, er kennt Flugzeugmotoren, und man hört es seinem Bach an, der wirklich ein gehetzter Zeitgenosse ist, nicht zur Ruhe kommt und seinen ganzen Körper durchschüttelt wie in irrem Tanz.

Ich behaupte, dass es für einen modernen Menschen unmöglich ist, sich die Welt vorzustellen, in der Gewitter, Wasserfälle und Orgelpfeifen die lautesten Geräuschmacher sind. Wie es sich aber angefühlt haben muss für die Menschen damals, in eine Kirche zu kommen und diesen Lärm zu vernehmen, der von der Empore herunterschallte, das lässt Brosse uns ein wenig nachspüren, indem er sein Instrument auf den Spuren von Motörhead und Rammstein wandeln lässt. Es ist laut und schnell und entfesselt die ganze rythmische Kraft, die in dieser Bachschen Sechzehntelkaskade steckt.

Stellen Sie, lieber Leser, die Lautstärke des Videos auf die höchstmögliche Stufe, und lassen Sie sich das Gehirn einmal durchpusten, als stünden Sie mit tausenden anderen in einem Rockkonzert. Tanzen Sie dazu, wenn Sie möchten.

Und?

Jetzt geht es Ihnen doch besser, oder? Und da sage noch einer, Barockmusik sei altbacken und langweilig.

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