Musik zum Sonntag (V)

Es ist Herbst geworden. Trübe Tage fallen über uns, Regen und grauer Himmel. Die Blätter verfärben sich, werden schwach und trudeln am Ende herab…

Und so weiter. Hm.

Was soll man nur aus seinen Herbstgefühlen machen, wenn alles schon hundertmal gesagt, Rilke dutzendfach zitiert, auch der letzte neo-romantische Instagram-Filter viel zu oft eingesetzt worden ist, wenn man in kitschigen Harmoniefolgen umherwabernde Klaviermusik nicht mehr hören kann?

Das Stück dieser Woche fällt nicht in die so verführerische Falle der lieblichen Verklärung. Der Herbst ist hier kein Versatzstück im Baukasten heimeliger Wohlfühlromantik, sondern das Gefühl setzt sich selbst aus Eindrücken zusammen, gleich einem Spaziergang durch einen herbstlichen Wald.

Unsere Erfahrung, ja unsere Wirklichkeit selbst kann in der Postmoderne nicht mehr einheitlich sein, sie kann ihren Ausdruck nicht in einem abgeschlossenen Kunstwerk finden; und diese Musik versucht gar nicht erst, solcherart abgeschlossen zu sein. Der Spaziergänger im Wald nimmt die Natur gleichsam spektroskopisch wahr, in Fetzen, seine Realität zerfällt in Einzelteile.

Ganz zu Beginn des Werkes, in der ersten Phrase, hören wir kurz den Wind durch die Baumwipfel sausen; dann klingt ein letztes Mal Tonalität an, Reminiszenzen an die Heimat, es klingt vielleicht nach Peter und der Wolf, aber dann zerfällt auch sie in einzelne Töne, das Individuum ist alleine mit sich und seinen vereinzelten Eindrücken.

Die Naturbeschreibungen im Zusammenwirken von Musik und Text sind meisterhaft komponiert (die „dürren Äste“ der kahlen Bäume werden geradezu bildlich vorstellbar), aber es geht selbstverständlich nicht um die Natur an sich. Inhalt dieser Musik ist die Natur in Bezug zum Menschen, in Bezug zu uns, wie in der klassischen literarischen Fabel. Der Künstler-Wanderer bringt sich und seine tiefsten Gefühle in der Abbildung der Natur zum Ausdruck; insofern ist die Anlage dieses Werkes selbstverständlich auch der romantischen Tradition verhaftet.

Formal und künstlerisch jedoch weist dieses Kunstlied weit über die Tradition hinaus: Dieser Erzähler hat etwas mitzuteilen. Die Sprache versagt ihm offenbar, wird bruchstückhaft, unvollständig, aber die Botschaft wird dadurch umso klarer: Er kämpft. Das Laub, das seinem unumgänglichen Untergang entgegenschreit, das wehrlos gegen die übermächtigen Gewalten der Natur kämpft, ist die zentrale Metapher des Liedes: Das ursprüngliche Gefühl, das wir in uns tragen, ist der Kampf. In solcher metaphorischer Radikalität ist diese Botschaft selten in die Welt geschrien worden.

Boris Pohlmann und Peter Dicke verleihen diesem leuchtenden Beispiel zeitgenössischer klassischer Musik eine eindrucksvollen Klang, es ist nicht gestellt oder anbiedernd, keine Inszenierung, nur gesungen.

Ich, ganz persönlich, sage: Ich habe so etwas in der Art noch nicht gesehen und auch nicht gehört. Wem allerdings der intellektuelle Zugang fehlt, der sei beruhigt: Es ist Ihnen erlaubt, zu sagen, ich kann damit nichts anfangen. Niemand wird dann sagen, Sie seien weniger intellektuell als andere Leute.

Das ganze Leben ist ein Quiz,
und wir sind nur die Kandidaten.
Das ganze Leben ist ein Quiz,
und wir raten, raten, raten.

 

Zur Aufzeichnung des Werks führt der folgende Link: http://www.wdr2.de/av/videofreinachhapekerkelingherbst102.html

 

 

Wir fliegen

Wir fliegen
Unten
Hinter den Wolken
Liegt der Himmel
Oben
Spiegelt sich das blaue Wasser
In der Oberfläche des Himmels
Oder nur in der Spiegelung
Vorne
Durchstößt die Küste
Die dichte Himmelsdecke
Hinten
Wo die Last der Wolken zu groß ist
Bricht das Meer ein wenig ein
Wir fallen

3. August 2013

„Sprechen“

– Verstehen wir Sie richtig? Über Inhalte reden muss allein deshalb schiefgehen, weil schon so oft darüber geredet worden ist?

– Ja, absolut. Das Sprechen über Inhalte ist zum Scheitern verurteilt. Man produziert immer nur Missverständnisse.

– Führt dieser Blick auf das Leben nicht zwangsläufig in die Depression?

– Nein, denn das Sprechen um der reinen Unterhaltung willen ist ja noch möglich: Vortäuschen, verstecken, Unsinn erzählen, das sind alles Mechanismen, die noch gut funktionieren.

Christian Kracht im Interview, 2000

Aus meinem Reisetagebuch (VI)

Spaziergang am Chimborazo

Umherirrend in der kleinen Welt auf- und abzulaufen, die mein beschränkter Geist mir aus dem schafft, was er um sich herum nur sieht, wie träumend zwischen den grünbraunen Hügeln zu wandeln, die meine schwachen Imaginationen unter den grauen, ringsum den Kreis des Sichtbaren umgrenzenden Wolken ins scheinbar Unendliche fortsetzen, dabei zu versuchen, in diese so einfache, vertraute Umwelt die der Erinnerung an ein Bild oder eine Photographie entnommene Ansicht des Fremden, des Unsichtbaren einzufügen und so natürlich zu scheitern, weil Seine Dimensionen, Seine Farben, Sein ganzes Wesen jenes übersteigen, was ich aus schon gesammelten Eindrücken, aus je gedachten Gedanken irgendwie ableiten könnte; sodann mich nach und nach in der sanften, hügeligen Gleichmäßigkeit des eigenen, momentanen Daseins zurechtzufinden, das profane Streben nach dem ungefähren Eindruck Seines Abbilds in dem viel beruhigenderen Wissen um Seine ganz und gar unfassliche, aber umso wahrere Anwesenheit ersterben zu lassen, und so am Ende in Frieden zu ruhen – so muss es sein, Gott zu finden.

Wir fliegen

Wir fliegen
Unten
Hinter den Wolken
Liegt der Himmel
Oben
Spiegelt sich das blaue Wasser
In der Oberfläche des Himmels
Oder nur in der Spiegelung
Vorne
Durchstößt die Küste
Die dichte Himmelsdecke
Hinten
Wo die Last der Wolken zu groß ist
Bricht das Meer ein wenig ein
Wir fallen

3. August 2013