Der Preis der Leipziger Buchmesse: Ein Resümee

Die Messe ist vorbei, die Stände sind abgebaut, die Aufregung verraucht, die Preise sind vergeben, Sabine Stöhr und Juri Durkot haben den ihren so verdient wie überraschend feiern können. Was bleibt von der Lektüre der fünf aufregendsten, besondersten, ja „besten“ Übersetzungen des Jahres, und natürlich des primus inter pares, dem ausgezeichneten Titel Internat?

Ich will hier nicht an der Juryentscheidung herumdeuteln. Mir wären für (und gegen) jede der fünf nominierten Übersetzungen gute Argumente eingefallen. Letzten Endes ist der Preis also nicht richtig oder falsch vergeben worden; viel interessanter ist die Frage, was die Vergabe über die Kriterien verrät, nach denen hier ein Preis vergeben wurde, sprich: was wir aus der Kombination aus Shortlist und Preisträgern über das Übersetzen im Jahr 2018 lernen können. Hier fünf Thesen.

1. Der Kalte Krieg ist nicht vorbei.

Dass sich die fünf Nominierten der (deutschsprachigen) Sachbuch/Essayistik-Kategorie sich allesamt mit Gesellschaft und Geschichte West- und Osteuropas beschäftigen – geschenkt. Dass sich aber neben den deutschsprachigen auch die fünf Nominierten der Übersetzerkategorie in dieses Muster einsortieren – noch dazu in unglaublich symmetrischer Anmut, wie ich anderswo schon beschrieben habe – das ist bemerkenswert.

Die Nominierung für zwei Übersetzungen aus slawischen Sprachen, zwei aus dem Englischen, dazu das Rumänische zwischen beiden Welten, bei völligem Fehlen Asiens und Afrikas – das belegt nicht nur (negativ), wie begrenzt der kulturelle Hintergrund dieser Buchbranche ist, sondern steht auch für den immensen Einfluss, den jene zwei Großkulturräume nach wie vor (und wohl wieder mehr denn je) auf uns haben.

2. Übersetzen überspannt Raum und Zeit.

Aus der Lektüre der – laut Jurymeinung – fünf besten Übersetzungen des vergangenen Jahres kann man lernen, wie – im besten Sinne – eigenmächtig man mit Texten umgehen und ihnen so zu neuer Wirkung verhelfen kann. Und da Übersetzen eine Kunst für sich ist, lassen sich auch ganz unabhängig von den jeweiligen Vorlagen Querverbindungen zwischen den Texten ziehen.

Der lustvolle, aber akademisch genau begründete und berechnete Archaismus eines Michael Walter beispielsweise hat mit der übermütigen Sprachavantgarde eines Robin Detje konzeptionell wenig gemein, zwischen ihren Vorlagen liegen Jahrhunderte; ihre Texte jedoch lesen sich wie von Geschwistern geschrieben.

Und auch Olga Radetzkajas Leistung muss man in diesem Zusammenhang hervorheben: Schklowskij so modern zu interpretieren, wie sie es in ihrer Übersetzung geschafft hat, die einem das Lesevergnügen wahrlich im Hals stecken bleiben lässt, das ist wahre Kunst.

3. Mannsein hilft beim Übersetztwerden.

Dass die Shortlist der Nachbarkategorie Sachbuch prozentual mehr weiße alte Männer aufweist als Vorstandssitzungen deutscher DAX-Konzerne, ist verschiedentlich schon bemerkt und kritisiert worden. Allerdings sind auch 100 Prozent der übersetzten Bücher im Original von Männern geschrieben.

Genderzählerei auf dem Cover allein wäre nun sicher kein Argument gegen die nominierten Titel, sähe es nicht zwischen den Buchdeckeln kaum besser aus. Eine einzige erwähnenswerte Frauenfigur hat es auf diese Shortlist geschafft (Suzy Bernstein in Mihuleacs Oxenberg & Bernstein). Eine Frau in fünf Romanen auf knapp 4000 Seiten.

4. Die Jury ist stärker als ihre Kritik.

Keine Literaturdebatte ohne Metadebatte: Auch in diesem Jahr stieß das Vergabeverfahren des Preises auf Kritik. Andreas Platthaus schrieb im Nachgang der Verleihung:

„Wer aus der Jury spricht denn [alle; FP] diese Sprachen, könnte also wirklich vergleichend urteilen? So ist diese Rubrik generell mehr Stil- als Kompetenzfrage.“ http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/themen/preis-der-leipziger-buchmesse-15496102.html

In eine ähnliche Kerbe schlug Maria Hummitzsch, die 2. Vorsitzende des VdÜ, in einem Radiointerview, in dem sie unter anderem einen Platz für Übersetzer_innen in der Jury einforderte.

Was die – sowohl von Platthaus als auch von Hummitzsch aufgebrachte – Kriterienfrage betrifft, kann ich nur auf das bereits einmal verlinkte Interview von Burkhard Müller verweisen, in dem die Kriterien der Jury glasklar benannt werden: Es gehe, so Müller 2017, darum, „ob die Differenz von Zeit und Raum so gelöst worden ist, dass man sagen kann, dieses Buch kann man heute lesen“.

Aus dieser – sicherlich nicht unumstrittenen – Perspektive wird auch deutlich, warum eine Neustrukturierung der Jury weder geboten noch notwendig erscheint: Die gefragte Kompetenz ist nicht das Spezialwissen einzelner Expert_innen (das angesichts der unendlichen Sprachenvielfalt der Welt ja ohnehin nie erschöpfend sein könnte), sondern genau jene, die die amtierende Jury aus Kritikerinnen und Kritikern mitbringt: Lesekompetenz. Auf die Idee, die Jury für den Sachbuchpreis mit Professor_innen oder gar die Belletristikjury mit Autor_innen zu besetzen, käme man ja auch nicht, und das mit gutem Grund.

In dieser Hinsicht war der stärkste Beitrag der Jury die Preisvergabe an Sabine Stöhr und Juri Durkot für einen Text, dessen Stil (ist das nicht, müsste man Andreas Platthaus fragen, genau die übersetzerische Kompetenz, die es zu prämieren gilt?) unter den fünf Nominierten der am wenigsten spektakuläre, vielleicht auch am wenigsten mutige, aber (dennoch oder vielleicht gerade auf diese Weise) wohl der dichteste und poetischste war. Die Vergabe zeigt, dass für gute Übersetzerarbeit keine abenteuerliche Vorlage im Hintergrund stehen muss. Und sie zeigt auch, dass man zu diesem Schluss kommen kann, ohne selbst beruflich zu übersetzen.

5. Mutige Entscheidungen zahlen sich aus.

Doch was ist mit den Texten selbst? Kann man irgendeine Art von Fazit aus der Lektüre dieser fünfstelligen Bestenliste ziehen, trotz der extremen Unterschiede zwischen ihnen? Wenn man ein solches Fazit ziehen will, sich also den kleinsten gemeinsamen Nenner dieser teilerfremden Kandidaten auszurechnen versucht, driftet man erzwungenermaßen ins Vage ab, aber vielleicht lohnt es sich ja doch.

Den fünf Nominierten ist die – keineswegs selbstverständlich – Eigenschaft gemein, klare Entscheidungen über den Kurs getroffen zu haben, den ihr Text nehmen soll. Ernest Wichner verlieh Catalin Mihuleac einen eleganten, von Satz zu Satz gleitenden Stil. Olga Radetzkaja verpasste Viktor Schklowskij eine Radikalentschlackung. Robin Detje mutierte selbst zu dem wagemutigen, experimentierfreudigen Kind, als das man sich Joshua Cohen beim Schreiben wohl vorstellen muss. Michael Walter imaginierte sich ein zweihundert Jahre früher geborenes Übersetzer-Ich zusammen und schrieb aus dieser Perspektive ein radikales, aber konsequentes Gesamtwerk des deutschen Laurence Sterne. Und das prämierte Gespann aus Sabine Stöhr und Juri Durkot entschieden sich gegen einen zu umgangssprachlichen Sound in der Wiedergabe ihrer Kriegserzählung und für die Poesie.

Radikales Übersetzen als Zukunftsstrategie, mir persönlich scheint das eine vielversprechende Perspektive für die Zunft zu sein. Seien wir gespannt, was uns im nächsten Jahr erwartet.

NÜLB 5: Michael Walter

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[Die anderen vier Nominierten zum Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse habe ich hier vorgestellt.]

Laurence Sterne: Werkausgabe. Aus dem Englischen von Michael Walter. 3 Bände mit Beiheft, insgesamt 1952 Seiten. Galiani Berlin 2018.

http://www.galiani.de/buecher/specials/werkausgabe-laurence-sterne.html

Das Buch

Laurence Sterne (1713–1768), Pastor, Weiberheld, Lebemann, war ein literarischer Popstar seiner Zeit. So skandalträchtig er auch schrieb, so zotig und verrückt es in seinem seit 1759 erschienenen Großwerk Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman auch zugeht, das Londoner Publikum lag ihm zu Füßen, bestellte eifrig neue Bücher und ermöglichte es dem stets unter Geldsorgen leidenden Autor damit, sich vom Predigerberuf abzukehren und ganz dem Schreiben zu widmen.

Im Jahr 1762, inzwischen sind sechs Bände des Tristam Shandy und einige Predigten im Druck erschienen, macht sich Sterne auf Anraten seiner Ärzte auf eine Reise nach Frankreich. Dort wird er von Philosophen, Literaten und Halbweltgestalten begeistert empfangen, schreibt, als das Geld zur Neige geht, weitere Tristram-Bände, kehrt kurz nach London zurück, macht sich 1765 erneut nach Frankreich und Italien auf, beendet nach erneuter Rückkehr nach England im Jahr 1767 den Tristam.

Die Auslandsreisen haben ihm eine neue Idee eingepflanzt: seine Erfahrungen will er in einem neuen Buch verarbeiten, das, wie er schreibt, „die Frauen […] im Salon […] und den Tristram im Schlafzimmer“  lesen können (Bd. 3, S. 566), ein Buch also, das dem Eindruck entgegenwirkt, er „sei […] selber shandyanischer, als ich es jemals wirklich gewesen bin“ (Bd. 3, S. 549). Daraus wird seine Sentimental Journey, im Deutschen oft so wirkungsvoll wie irreführend als Empfindsame Reise übersetzt.

Diese zwei Hauptwerke in Michael Walters bereits erschienenen Übersetzungen, einige seiner kürzeren Frühwerke sowie 249 Briefe umfasst diese Ausgabe. Zum „ganzen Sterne“ fehlten jetzt also nur noch seine in vier Bänden erschienenen Predigten, die Sterne selbst allerdings zeitlebens streng von seinem literarischen Schaffen trennte.

Die Jurybegründung

„Walter hat diesen charmanten Klassiker in ein zeitgenössisches Deutsch übersetzt, das die Lebendigkeit und den Witz einer vergangenen Epoche auferstehen lässt und doch die Achtung vor dem historischen Abstand wahrt.“

http://www.preis-der-leipziger-buchmesse.de/de/Nominierungen/Uebersetzung/Michael-Walter-uebersetzte-aus-dem-Englischen-Laurence-Sterne-Werkausgabe-in-3-Baenden/

Der Übersetzer

Michael Walter ist das Schwergewicht unter den Nominierten. Seine Bibliographie strotzt vor Weltliterat_innen, er hat die wichtigsten Übersetzungspreise gewonnen, im Mai wird ihm der Europäische Übersetzerpreis der Stadt Offenburg verliehen. Mit Laurence Sterne beschäftigt er sich seit 35 Jahren. Mit der Übersetzung des Tristram Shandy begann alles – seither ist diese gefeierte und mit Preisen überhäufte Übersetzung fortlaufend überarbeitet worden. 2010 erschien dann Walters Übersetzung der Empfindsamen Reise. Für die Werkausgabe hat er einige bisher fehlende kürzere Texte sowie Sternes umfangreichen Briefkorpus neu übersetzt.

Lieblingssatz

„Zum Geier mit aller Empfindsamkeit!“ (Bd. 3, S. 552)

Die Übersetzung

Zu den aufregenden Nebenfreuden einer so intensiven Beschäftigung mit dem auf fünf Titel eingedampften Mikrokosmos NÜLB, wie ich sie nun hinter mir habe, gehört es, Querverbindungen und Strukturen in der Shortlist zu erkennen.

Zum Beispiel weist diese Liste eine geradezu klassische Symmetrie auf: Zwei Bücher spielen östlich des ehemaligen Eisernen Vorhangs, in Russland bzw. der Ukraine, zwei in der angloamerikanischen Welt, und in der Mitte steht als Scharnier der Doppelroman Oxenberg & Bernstein, der die beiden Welten – hier Rumänien, dort Amerika, überbrückt.

Die zweite übergreifende Gemeinsamkeit der fünf Bücher liegt hier vor uns: es ist Laurence Sterne. Bei Viktor Schklowskij war die Bezugnahme auf die Empfindsame Reise schon im Titel offensichtlich, aber auch Joshua Cohen steht – ob bewusst oder unbewusst – in der Tradition dieses großen Fabulier- und Sprachkünstlers, dessen sich hinüber und herüber rankende Erzählweise Cohen ins 21. Jahrhundert übertragen hat.

Wenn wir nun Sterne als Urvater der NÜLB-Liste 2018 sehen: Wie ist dann Michael Walters Leistung zu bewerten? Machen wir es kurz: Wir haben es hier mit dem Favoriten auf den Preis zu tun. 1900 Seiten eines Autors, darin verschiedenste Textgattungen, Stilebenen und Eskapaden, in einem Guss zu übersetzen, wie Walter es hier geschafft hat, verdient höchste Bewunderung und jeden Preis der Welt. Bekäme er ihn nicht, es wäre kein Affront – angesichts der Konkurrenz auf der Liste und angesichts auch der erzwungenermaßen arbiträren Auswahl – aber doch Anlass zu Nachfragen.

Walters Übersetzungsstil ist in den letzten Jahrzehnten, in denen sich Literatur- und Übersetzungskritiker_innen über sein Werk gebeugt haben, vielfach beschrieben, analysiert und gepriesen worden. Walter hält ihn auch in den neu übersetzten Teilen, also den kürzeren Geschichten im zweiten und vor allem der Briefsammlung im dritten Band, konsequent durch.

Das Besondere an diesem Stil ist der unbedingte Wille zu einer historisierenden Herangehensweise bei gleichzeitiger unbändiger Sprach- und Formulierlust. Wäre Walter nicht 1951, sondern 1751 geboren und hätte seine Tristram-Übersetzung(en) 1783 veröffentlicht, es wäre seiner deutschsprachigen Leserschaft wohl nicht aufgefallen. (Allenfalls wären ihr eine ganze Reihe fehlgeleiteter Übersetzungen, die Walter selbst im Nachwort detailliert auflistet, erspart geblieben.)

Wenn man diese übersetzerische Entscheidung einmal akzeptiert, dann liest sich Walters Sterne erstaunlich modern, gewitzt und kreativ und ist damit gar nicht so weit von Detjes Cohen-Übersetzung entfernt. Sein Deutsch ist jedenfalls auch im Jahr 2018 hervorragend lesbar und ruft geradezu Sehnsucht nach der Probierfreude jener Zeit in uns wach.

Walters Vorgehen, das die Konfrontation der Leserschaft mit „sintemalen“, „itzt“, „glatterdings“ und Konsorten nicht scheut, kann und wird keinen Alleinübersetzungsanspruch erheben können. Sicher haben auch Ansätze, den 250-jährigen Graben zwischen Tristram und uns mehr zu überbrücken, stärker zu aktualisieren, ihre Berechtigung. In seinem Metier allerdings wird ihm so schnell wohl niemand den Rang ablaufen.

Übrigens ist auch die editorische und satztechnische Aufmachung dieser Ausgabe voll auf der Höhe dieser virtuosen Übersetzung. Sterne zahlreiche typographische Eigenheiten werden auch in der deutschen Ausgabe – wenn man Walters Nachwort im ersten Band Glauben schenkt, zum ersten Mal – entsprechend umgesetzt. Und die Vor- bzw. Nachworte in jedem Band sowie gerade bei den Briefen die umfangreichen Anmerkungen ergänzen die um all jene Hintergrundinformationen, die bei einem solchen Autor zum Verständnis notwendig sind.

Weiterführende Links

Leseprobe: https://www.bic-media.com/mobile/mobileWidget-jqm1.4.html?isbn=9783869711706

Die Mammutveranstaltung „Shandy Hall Berlin“ zum 250. Geburtstag: https://www.facebook.com/events/2001026396886262/

Ein ausführliches Gespräch mit Michael Walter im BR: https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/hoerspiel-und-medienkunst/michael-walter-tristram-shandy-100.html

Tristram Shandy als Hörspiel https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/hoerspiel-und-medienkunst/hoerspiel-podcast-sterne-tristram-shandy-gentleman100.html

 

NÜLB 4: Juri Durkot und Sabine Stöhr

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[Zu den ersten drei Nominierten zum Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse geht es hier.]

Serhij Zhadan: Internat. Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr. Suhrkamp 2018. 301 Seiten. http://www.suhrkamp.de/buecher/internat-serhij_zhadan_42805.html

Das Buch

Internat ist bereits das neunte Buch des Ukrainers Serhij Zhadan, das auf Deutsch erscheint, und wie seine Vorgänger bietet es einen aufregenden und zugleich einfühlsamen Einblick in die Seele seines krieggeschundenen Heimatlandes. Es spielt in der Ostukraine, jenem Landstrich zwischen Ost und West, der jenen offenen Kämpfen und verdeckten Scharmützeln zum Opfer fiel und bis heute die Diplomatie in Atem hält.

Die Stärke seiner extrem verdichteten, personal erzählten Geschichte liegt aber darin, dass man sie gar nicht so konkret auf die Ukraine beziehen muss. Bis auf wenige Ausnahmen (die er, wäre es ihm darauf angekommen, ohne Verlust hätte tilgen können) vermeidet Zhadan nämlich jeglichen Kontext, jegliche historische oder politische Einordnung. Internat liest sich über weite Strecken wie eine zeit- und ortsenthobene Parabel auf den Krieg und darauf, was er aus den Menschen macht.

Zhadan konzentriert sich ganz und gar auf das Schicksal seines Protagonisten Pascha, eines Schullehrers, der ledig in seinem Elternhaus lebt und sich wenig bis gar nicht für die großen Zusammenhänge um ihn herum interessiert. Pascha muss seinen (wie viele andere Personen des Romans auch) namenlos bleibenden Neffen aus dem Internat abholen, gerät aber auf dem Weg zwischen die Fronten des inzwischen heraufgezogenen Krieges. Zwischen Schnee, Blut, Metall und Erde erlebt er – später mit dem Jungen im Schlepptau, noch später im Schlepptau des Jungen – ein nervenaufreibendes Abenteuer nach dem anderen.

Zhadan, Jahrgang 1974 und nebenbei Rocksänger, schafft in diesem Roman eine Atmosphäre wie in einem Egoshooter, allerdings mit pazifistischem Protagonisten. Das Episoden- oder Promenadenhafte der Handlung, die menschenverlassenen Scheunen und Landschaften, die ständig im Ungefähren lauernde Bedrohung – all das erinnert unheimlich an entsprechende Computerspiele. Noch unheimlicher ist dann nur die Vorstellung, dass die Realität nicht weit von dem entfernt sein dürfte, was Zhadan hier – teils aus eigener Anschauung – schildert.

Die Jurybegründung

„Die Umgebung verroht, aber der Wahrnehmungsapparat des Helden gewinnt an Schärfe und Genauigkeit. Keine billige Drastik, sondern dichte Beschreibungen, die auf Deutsch eine enorme Kraft entfalten. Die Sprache ist Schutzraum und Erkenntnisinstrument in einem.“

http://www.preis-der-leipziger-buchmesse.de/de/Nominierungen/Uebersetzung/Sabine-Stoehr-und-Juri-Durkot-uebersetzten-aus-dem-Ukrainischen-Serhij-Zhadan-Internat/

Das Übersetzungsteam

Sabine Stöhr und Juri Durkot haben gemeinsam schon 5 Bücher von Serhij Zhadan ins Deutsche gebracht. Für seinen letzten Roman „Mesopotamien“ wurden sie gemeinsam mit dem Brücke Berlin Literatur- und Übersetzerpreis ausgezeichnet. Auf der Shortlist zum Preis der Leipziger Buchmesse stehen sie aber zum ersten Mal.

Lieblingssatz

„Die Feldküche kühlt ab wie ein Herz nach der großen Liebe.“ (S. 218)

Die Übersetzung

Anders als die drei bisher vorgestellten Originaltexte bot Zhadans Internat keine offensichtlichen formalen Herausforderungen, also keine exzessive Parataxe, keine Sprachkunststückchen, keine artifiziell sprachlich vermittelte Kälte. In seiner in der dritten Person erzählten, aber sich fast über die gesamte Strecke auf die Gedankenwelt des Protagonisten Pascha beschränkenden Geschichte kam es vielmehr darauf an, den Erzähler als die leicht naive, aber sprachmächtige Figur zu charakterisieren, als die Zhadan ihn angelegt hat.

Sabine Stöhr selbst hat über die Übersetzung von Zhadans Sprache einmal gesagt, es komme darauf an, „durch präzisen Ausdruck das Bild in […] unaufdringlicher Weise nachzuzeichnen“. Diese Aufgabe, die Sprache zugleich fließen und klingen zu lassen, sie nicht mit bedeutungsschwangerem Blabla zu überfrachten, aber ihre eindrückliche Kraft zu erhalten, gelingt Stöhr und Durkot vorzüglich.

Die nicht abreißenden Beschreibungen überfrorener Felder, verhärmter Gesichter, schlaglochdurchzogener Straßen geraten ihnen nie alttümelnd oder albern, auch nicht redundant oder gar langweilig, sondern präzise, klar und poetisch. Das ist bei einem derart eisigen Roman kein selbstverständliches Lob.

Das zweite Alleinstellungsmerkmal dieses Buches im Kreise der Nominierten ist erstaunlicherweise der umfangreiche Gebrauch direkter Rede; kein anderer Text der Shortlist bedient sich dessen so sehr. Und auch damit sind Stöhr und Durkot gut zurecht gekommen. Sie bewegen sich in den direkten Redebeiträgen fast immer trittsicher auf dem schmalen Grat zwischen (zu) umgangssprachlicher Anbiederei und (zu) literarischer Hochsprache; auch hier erinnert vieles an die ganz ähnliche Sprache von Computerspielen.

Ein Fremdkörper bleiben lediglich die häufigen Schimpfwörter. Das häufigste ist das englische „fuck“, das entweder holprig mit Komma an einen Satz angeschlossen wird („Spinnst du, fuck?“, „Halt ihn, fuck!“ etc.) oder auch im denglischen Adjektiv „verfuckt“ auftritt, einem Wort, das zumindest mit dem Duden und mir bis dato unbekannt war. Sowohl das englische „fucking“ als auch das deutsche „verfickt“ wären hier geläufigere und gangbare Alternativen gewesen.

Die Übersetzungsleistung von Stöhr und Durkot, die diese Vulgärkritik nicht schmälern soll, ist ob der hohen atmosphärischen Dichte, die ihr deutscher Text erreicht, nicht gering zu schätzen. In der Shortlist für Leipzig werden sie es meiner Ansicht nach aber schwer haben, gegen die teilweise spektakulären Mitnominierten anzukommen. Die Vergabe des Preises an sie wäre daher ein klares Bekenntnis dazu, sich beim Bewerten der Leistung von Übersetzerinnen und Übersetzer nicht von ihrer jeweiligen Vorlage blenden zu lassen, sondern einzig das Übersetzerische zu beurteilen, das heißt das Sicheinlassen auf deren Geist. Das nämlich ist hier vorzüglich gelungen.

Weiterführende Links

Leseprobe: http://www.suhrkamp.de/download/Blickinsbuch/9783518428054.pdf

Eine Buchvorstellung im Literaturhaus Salzburg: https://www.youtube.com/watch?v=X0ydIFQlrR8

Ein Interview mit Serhij Zhadan in der Welthttps://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article174515025/Krieg-in-der-Ukraine-Serhij-Zhadan-im-Interview.html

Die Dokumentation der Dankreden zum Brücke-Berlin-Preis von Zhadan, Durkot und Stöhr in der Zeitschrift Übersetzen (Ausgabe 01/15): http://zsue.de/wp-content/uploads/2016/09/UE-01_2015_gesamt.pdf

Sabine Stöhrs Dankrede zum Johann-Heinrich-Voß-Preis 2014: https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/johann-heinrich-voss-preis/sabine-stoehr/dankrede

NÜLB 3: Robin Detje

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[Die ersten Beiträge dieser Reihe über die Nominierten zum Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse: Ernest Wichner und Olga Radetzkaja.]

Joshua Cohen: Buch der Zahlen. Aus dem Englischen von Robin Detje. Schöffling & Co. 2018. 752 Seiten. https://www.schoeffling.de/buecher/joshua-cohen/buch-der-zahlen

Das Buch

Das World Wide Web im 202. Jahrzehnt n. Chr. – was hat es mit dem menschlichen Dasein gemacht? Wo landen wir, wenn der flüchtige Traum eines Inter-Nets gleichberechtigt und demokratisch miteinander verwobener kommunizierender Knoten ausgeträumt ist und stattdessen Macht diesen Raum infiltriert, also die gleichen ungerechten, kapitalistischen, kolonialistischen und sexistischen Mechanismen wie im Real Life?

Joshua Cohen, geboren 1980, war im Jahr 2015 nicht der erste, der sich in Romanform an dieses Thema wagte. So durchgeknallt, so sprachmächtig, so intellektuell, so experimentell und so anspruchsvoll wie sein in jenem Jahr erschienenes Book of Numbers (im Englischen auch der Titel des Buchs Numeri, des 4. Buchs Mose und der Thora) hat sich aber noch kein Werk dem allgegenwärtigen Online genähert. Nicht weniger als 40 Jahre Internetgeschichte wollte Cohen mit seinem Werk aufarbeiten, von den Anfängen der vernetzten Systeme bis hin zu dem allgegenwärtigen Überwachungssystem, zu dem sich die einstige Kommunikutopie heute entwickelt hat.

Cohen erzählt dies in einer wuchernden Formensprache, in Erzähltext, Transkripten, Mails, Blogeinträgen, wirren Manuskriptvorstufen. Er jagt seine Typographie – die deutsche Ausgabe wurde von Fotosatz Amann hervorragend lesbar umgesetzt – und Lesende durch einen Wald von rechts- und linksbündigem Flattersatz, Groß- und Kleinschreibung, Durchstreichungen und waghalsigen Sonderzeichen, er jagt sein Korrektorat durch Neologismen und absichtlich eingebaute Rechtschreibfehler und erzeugt so beim Lesen ein Geflirr wie nach 12 Stunden Facebook-Konsum.

Die Handlung geht da bisweilen etwas unter, steht aber sicherlich auch nicht im Mittelpunkt von Cohens Interesse. Sie ist, um es kurz zu machen, reichlich konstruiert und hätte unter den Händen eines weniger talentierten Schriftstellers zu wenig mehr als einem hanebüchenen Thriller getaugt.

Ein gescheiterter Schriftsteller namens Joshua Cohen, der sich mit Ghostwriterjobs über Wasser hält und nach journalistischen Aufträgen lechzt, bekommt den Auftrag, die Memoiren von Joshua Cohen, Gründer und „Principal“ („Großer Vorsitzender“) eines Mega-Internetkonzerns namens „Tetration“ zu schreiben. Er schreibt sie und gerät – mehr gibt es zur Handlung an dieser Stelle gar nicht zu sagen – auf diese Weise in die ihm völlig fremde Welt der Programmierer [sic!], Hacker und Start-ups.

Figuren werden nach Belieben hin- und hergeschoben, bleiben oftmals vor lauter sprachlichem Make-up erstaunlich blass und tauchen nach hunderten Seiten plötzlich wieder auf; es wird besinnungslos durch die Welt gejettet, und aus heiterem Himmel, fast als habe eine gelangweilte Lektorin darum gebeten, ergibt sich im letzten Teil noch eine wilder, aber letztlich unmotivierter Showdown.

Das mag man alles verzeihen, denn die Lektüre von Cohen-Detjen ist so mesmerisierend/halluzinogen, dass man ohnehin meistens der Handlung nicht folgen kann. Wirklich ärgerlich ist jedoch, dass Cohen nicht fähig scheint, irgendeine auch nur halbwegs interessante weibliche Figur zu Papier zu bringen. Genau zwei Dinge dürfen Frauen zur Handlung des Buchs der Zahlen beitragen: Sex und Sexverweigerung. Die weitestgehend durchgeknallten Männer, in deren Köpfen man die 750 Seiten verbringen muss, legen dieses Binärsystem über das gesamte weibliche Personal dieses Buches, während sie selbst das Wichtige besorgen, das Business, die Handlung, das Buch.

Und selbst das ließe man sich noch als triste, aber realitätsnahe Beschreibung jener Tech-Welt verstehen, in der sich die Handlung des Romans nun einmal größtenteils bewegt, legte der Autor seinem Ich-Erzähler nicht widerlichste Bezeichnungen für Frauen in die Feder, über die man so schnell nicht hinweg kommt und sich fragen muss, ob da ein Autor (dessen sonstiges Werk in dieser Hinsicht kaum einen Deut besser ist) einen Roman für das nächste oder das vorvergangenen Jahrhundert geschrieben hat.

Den neuen amerikanischen Großautor, der die kommenden Jahrzehnte literarisch definiert, als den so manche meiner Mitrezensenten [sic!] Cohen schon ausrufen, kann ich ihn also nicht sehen. Sprachlust, Recherchierfreude und überbordende Kreativität machen desungeachtet jedoch ein Roman-Meisterwerk, nach dessen Lektüre man nur noch auf eines wartet: Warum nicht als nächstes mal ein Meisterinnenwerk, Mr. Cohen?

Die Jurybegründung

„Es funkelt und glitzert und knallt und zischt – Cohens Sprach-Furor kennt keine Grenzen, und Detje steht ihm in nichts nach. Lustvoll bildet er die wild voran preschenden Sätze nach, erfindet Wörter und inszeniert einen verbalen Höhenrausch.“

http://www.preis-der-leipziger-buchmesse.de/de/Nominierungen/Uebersetzung/Robin-Detje-uebersetzte-aus-dem-Englischen-Joshua-Cohen-Buch-der-Zahlen/

Der Übersetzer

Robin Detje, Jahrgang 1960, ist ein Tausendsassa: Schauspieler, Autor, Kritiker, Übersetzer, vielfach ausgezeichnet, vielfach aktiv, schauspielert/performt, twittert, instagramt. Den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse hat er im Jahr 2014 schon einmal gewonnen, damals für seine Übersetzung von William T. Vollmans Europe Central.

Lieblingssatz

„Es gibt keine Worte dafür, es lässt sich nicht in Worte fassen, wenn man seinen eigenen Übersetzer übersetzt.“ (S. 646)

Die Übersetzung

Robin Detjes Buch der Zahlen beginnt mit einem übersetzerischen Paukenschlag, mit dem allein er sich den Preis, für den er nominiert ist, sowohl verdient als auch verspielt haben könnte.

Cohen hat seinem Buch, in dem das Übersetzen (von einer Sprache in die andere, von Menschen- in Computersprache, von einer Kultur in die andere) eine zentrale Rolle spielt, zwei verschiedene, exemplarisch für die zwei Protagonisten stehende Fassungen eines Bibel- bzw. Thorazitats (Num 14, 32–34) in englischer Sprache vorangestellt (hier der Kürze halber nur ein Beispielsatz):

„For the children of you shall be evil in the wilderness, four hundred years, and shall carry your zenith, till thy glory, in the wilderness.“

„And your children will be of shepherds in the desert 40 years and will support your prostitution/adultery until the perfection/destruction of your corpses in the desert.“

Das erste Zitat stammt aus der King-James-Übersetzung, das zweite stellte eine fiktive automatische Übersetzung mit Doppelvarianten jenes Übersetzungsprogramms dar, das zum Tetration-Imperium gehört (die Quellenangabe lautet tetrans.tetration.com/#hebrew/english).

In der deutschen Übersetzung wird zunächst die lyrische Thora-Übersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig zitiert (schon das ein übersetzerisches Statement), die untere Fassung allerdings macht allerdings etwas fassungslos:

„Eure Söhne werden vierzig Jahre in der Wüste weidern müssen, sie tragen eure Hurerei, bis eure Leichen in der Wüste dahin sind.“

„Legg und Bnicm Ihio Raim Wildnis, Arbaim jahrein und Nsao, At-Znoticm – bis-Tm Fgricm, Wildnis.“

Die Quellenangabe lautet: „tetrans.tetration.com/#hebrew/englisch/deutsch“.

Für den Mut, diesem großen Rätselroman ein noch größeres übersetzerisches Rätsel voranzustellen, für die Chuzpe, den vom Autor intendierten Hinweis auf die Rolle von Übersetzung im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit aufzugreifen und in der Übersetzung der Übersetzungen auf eine noch andere Ebene zu katapultieren, kann man den Übersetzer, vielleicht dem Autor, sicher dem Verlag nur gratulieren.

Dass der Text solch eine Entscheidung rechtfertigt, dass man hier mit kleingeistig verstandener „Originaltreue“ nicht weit kommt, und dass das Herumkritteln an übersetzerischen Einzelentscheidungen bei der Rezeption zu wenig führen wird, muss jedem klar werden, der auch nur zwei Seiten dieses Romans gelesen hat. Einem derartig sprachwuchtigen Wucherwerk kommt man nicht mit der Heckenschere bei, man muss schon selbst mitwuchern, um diesen Text in ein lesbares Deutsch zu überführen.

Hier sind auch jene Kriterien schlechterdings fehl am Platze, die wir bei unseren letzten zwei Übersetzungskritiken angelegt haben, nämlich Stringenz und Geradlinigkeit auf dem einmal eingeschlagenen Übersetzerweg, das also, was man einen präzise berechneten Stil nennen könnte. Cohens Sprachschöpfungseifer gibt zu einer solchen Entscheidung keinen Raum, zu sehr wälzt er selbst sich durch immer neue Experimente und Konstruktionen, die der Übersetzer nachahmen, aber nicht wie Olga Radetzkaja gewissermaßen am Reißbrett übersetzen kann.

Detje gelingt das Kunststück, den harten, rotzigen, neologismenfetten Sound des englischen Erzählers ins Deutsche zu überführen, ohne die Sätze über alle Maßen aufzublähen. Er umschifft die zwei gefährlichen Klippen beim Übersetzen aus dem Englischen – zu umständliche Sätze einerseits und zu parallele und damit „übersetzt“ klingende Formulierungen andererseits – bravourös und nimmt auch Cohens zahlreiche Neu- oder Umschöpfungen mit, wenn Leute in andere Etagen „liften“ (S. 645), aus „Simulakrügen“ trinken (S. 207), und so weiter (endlos so weiter). Auch der sicher naheliegenden Versuchung, einen Nerdroman voller Tech-Anglizismen zu schreiben, hat Detje widerstanden, ohne andererseits der Gefahr eines deutschtümelnden Neusprechs à la „Klapprechner“ zu verfallen, der man sich mit diesem Verfahren zwangsläufig aussetzt.

Dass beim Bemühen, den Text dem deutschen Publikum nicht nur einfach auf Deutsch vorzulegen, sondern wirklich erfahrbar zu machen, nicht alles ganz stimmig gelingt, liegt in der Natur der Sache. An manchen Stellen schleichen sich in den hypermodernen Sound unnötige Archaismen ein (wenn etwa Joints „in Brand gesetzt“ oder „Linnen“ ausgebreitet werden), und anderswo geht wohl der Übersetzer-Übereifer mit Detje durch.

In diese Kategorie sortiere ich auch die Entscheidung, den im Original kapital „Principal“ gerufenen Internetmogul als „Großen Vorsitzenden“ einzudeutschen. Diese Wahl greift die leise Ironie des Originals ebenso auf wie die fernöstliche Attitüde, mit der sich der wohlstandserweckte Pseudo-Buddhist gerne schmückt. Aber hätte man wirklich so weit gehen müssen, Macchiavellismus durch Maoismus zu überblenden? Hätte es ein „Boss“, ein „Chef“, etwas gewagter vielleicht ein „CEO“ oder gar ein „Anführer“ nicht auch getan? Mir scheint jedenfalls schwer vorstellbar, dass sich der Vorsitzende eines westlichen Riesenkonzerns mit Sitz im Silicon Valley ernsthaft „Großer Vorsitzender“ rufen lässt.

Derartige Irritationen werden allerdings durch jene anderen glorreichen Stellen mehr als ausgeglichen, an denen Detje selbst Wortspiele und neue Querverbindungen in den Text hineinschreibt. Man findet Bandnamen, man findet Goethezitate, man findet Wortneuschöpfungen wie das „Kummerspektrum“, das sich in die Wangen einer Frau eingegraben hat (S. 657), und über jene einzelne dieser Fundstellen möchte man laut aufjauchzen und dem Übersetzer um den Hals fallen.

Die Handlung des Buchs der Zahlen dreht am Ende noch eine wirre Pirouette: Die Autor-Romanfigur namens Joshua Cohen reist nach Deutschland und liest sich selbst in Übersetzung (später trifft sie sogar ihren eigenen deutschen Übersetzer, einen verbitterten Waschlappen, in dem sicherlich/hoffentlich kein Porträt von Cohens bisherigen deutschen Übersetzern Blumenbach und Detje steckt). Das Fazit seiner Lektüre, dem ich hier nichts mehr hinzufügen will, lautet (S. 610):

„Ich verstand kein einziges Wort – zum Glück. Das hieß, die Übersetzung war gut.“

Weiterführende Links

Eine Videoaufzeichnung der Buchpräsentation im Jüdischen Museum Berlin: https://www.youtube.com/watch?v=qIQQeq40oiE

Joshua Cohen über das Übersetzen: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/themen/joshua-cohen-on-the-transit-of-toledo-15438691.html?printPagedArticle=true

Eine Reportage der New York Times: https://www.nytimes.com/2015/06/13/books/nothing-to-hide-and-nowhere-to-hide-it-in-joshua-cohens-internet-novel.html?action=click&contentCollection=Sunday%20Book%20Review&module=RelatedCoverage&region=Marginalia&pgtype=article

Die Rezension der Süddeutschen Zeitung, die sich auch ausführlich mit der Übersetzung beschäftigt: http://www.sueddeutsche.de/kultur/amerikanische-literatur-digitaler-weltinnenraum-1.3867161

Leseprobe: https://www.schoeffling.de/book2look/847

 

[Offenlegung: Ich war drei Monate lang Praktikant bei Schöffling & Co.]

 

NÜLB 2: Olga Radetzkaja

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[Zum ersten Beitrag über die Nominierten zum Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse (NÜLB) geht es hier.]

Viktor Schklowskij: Sentimentale Reise. Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Die Andere Bibliothek 2017. 492 Seiten. https://www.die-andere-bibliothek.de/Originalausgaben/Sentimentale-Reise::719.html

Das Buch

Die diesjährige Shortlist wartet mit einer Besonderheit auf: Zwei der nominierten Romane haben nicht nur den gleichen (wenn auch unterschiedlich übersetzten) Titel, sie beziehen sich auch direkt aufeinander. Viktor Schklowskij (1893–1984), der Autor dieser „Sentimentalen Reise“ (Sentimentalnoje Puteschestwije, 1924), war ein glühender Verehrer von Laurence Sterne, dessen „Sentimentale Reise“ (die im Deutschen traditionell als „Empfindsame Reise“ veröffentlicht wurde) in der Übersetzung von Michael Walter ebenfalls für den Preis nominiert ist.

So sehr Schklowskij Sterne jedoch literarisch verehrte, so weit entfernte er sich von seinem historischen Vorbild. Der Lebemann Yorick in Sternes Journey lustwandelt heiter durchs benachbarte Frankreich und erzählt davon in verspielter, überbordender Sprache, Schklowskijs Puteschestwije hingegen führt durch das Russland der Jahre 1917 bis 1922, also das Russland der Revolution, des Ersten Weltkriegs, des Bürgerkriegs. Seine Absätze sind kurz und frostig; die Ironie und die Abschweifungslust, die er mit Sterne durchaus gemein hat, wirken nicht verspielt, sondern drastisch und schockierend. Dieses Verfahren legt eine brutale, unsentimentale – oder empfindungslose – Wirklichkeit bloß. Den Titel kann man also nur als höhnische Parodie verstehen.

Schklowskij hält sich in seiner Beschreibung an seine eigenen Erlebnisse; das Buch ist also in der Fünferriege der Nominierten das einzige eindeutig nichtfiktionale Werk. Was Schklowskij da alles erlebt hat in jenen 5 chaotischen Jahren zwischen Zaren- und Bolschewikentum, übertrifft allerdings vieles, was sich sonst (nur) zwischen zwei Buchdeckeln abspielt: Zwischen Revolution und Konterrrevolution, zwischen Krieg und Frieden, Gefecht und Desertion, Euphorie und Trübsal, Leben und Tod klafft bei Schklowskij oft nur ein Absatz.

Seinen Weg kreuz und quer durchs vor- und nachrevolutionäre Russland, durch Persien, die Ukraine, Finnland und Deutschland nachzuzeichnen wäre an dieser Stelle müßig. Dass Schklowskij wenig Wert auf chronologisches Berichten legt, sondern seine Erzählung mit Einschüben, Ausschmückungen und Abschweifungen garniert, trägt ohnehin nicht gerade zur Zusammenfassbarkeit seines Textes bei.

Was aber am Ende bleibt ist ein eindrückliches, weder geschöntes noch verbittertes Porträt eines Landes im grundstürzenden Umbruch, das sich vielleicht noch der Vergangenheit, aber weder der Gegenwart noch der Zukunft gewiss war. In dem Tod und Leid so alltäglich geworden waren, dass man, wie es an einer Stelle heißt, „Methoden entwickelt [hat], wie man eine Frau vom Tod ihres Mannes informiert“ (S. 353), und in dem daher irgendetwas Neues kommen musste, allein weil es so nicht für immer weitergehen konnte.

Die Jurybegründung

„Die Wirren der Revolution im Stil der russischen Moderne: Viktor Schklowskij erzählt von Russland zwischen Welt- und Bürgerkrieg. Olga Radetzkaja hat seinen literarischen Augenzeugenbericht erstmals vollständig übersetzt: lakonisch, gleißend, radikal anarchisch, rasiermesserscharf.“

http://www.preis-der-leipziger-buchmesse.de/de/Nominierungen/Uebersetzung/Olga-Radetzkaja-uebersetzte-aus-dem-Russischen-Viktor-Schklowskij-Sentimentale-Reise/

Die Übersetzerin

Olga Radetzkaja, Jahrgang 1965, ist eine rührige und gestandene Übersetzerin aus dem Russischen. Sie hat zeitgenössische Literatur ebenso wie Klassiker übersetzt und Aufsätze zu übersetzungstheoretischen und kulturhistorischen Themen veröffentlicht. Im Jahr 2003 wirkte sie als Ko-Autorin an der Dokumentation „Spurwechsel“ mit (https://www.youtube.com/watch?v=elfxV-UyLH4). Sie ist zum ersten Mal für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Lieblingssatz

„Und das Merkwürdigste an diesem merkwürdigen Alltag, der so robust war wie eine Bolzenkette und so endlos wie eine Warteschlange, das Merkwürdigste daran war, dass eine Semmel so wichtig schien wie das ganze Leben – alle Gefühle, die man noch hatte, wogen gleich viel, alles war gleich.“ (S. 233)

Die Übersetzung

Es ist Fluch und Segen für eine Übersetzung, wenn die Autorin oder der Autor, den man vor der Nase hat, sich an anderer Stelle – oder gar im zu übersetzenden Werk selbst! – auch zur Theorie seines eigenen Tuns oder – noch schlimmbesser – zur Theorie der Übersetzung geäußert hat. In der Liste der fünf NÜLBs im Jahr 2018 trifft dies neben Robin Detjes Übersetzung von Joshua Cohen vor allem auf Olga Radetzkaja zu.

Natürlich fällt in einem solchen Fall das Anlegen eines interpretatorischen Winkels an den Originaltext einfacher, weil man weiß, welche der vielfältigen möglichen Sinnrichtungen gewollt und welche womöglich Artefakte sind. Doch andererseits muss sich die Übersetzungsleistung hinterher ganz selbstverständlich jenen Kriterien unterziehen, die die Autorin oder der Autor selbst aufgestellt haben. Literaturkritiker bekommen das Gerüst ihrer Rezension gewissermaßen mitgeliefert.

Nun, so stellen wir es auf.

Viktor Schklowskij war nicht nur wie Joshua Cohen nebenbei, sondern hauptberuflich und in erster Linie Literaturtheoretiker. Er war Teil des Petersburger OPOJAS-Kreises, der sich an vorderster Front für den literarischen Modernismus in Russland stark machte und eine radikal neue Herangehensweise an Kunst im Allgemeinen und Literatur im Besonderen ausprobierte und einforderte.

Es ist nun hier nicht der Ort, dem Wirken dieses literarischen und literaturwissenschaftlichen Kreises (der sich auch sehr um das literarische Übersetzen ins Russische verdient machte) auf den Grund zu gehen. Einen guten Einstieg dazu bieten das exzellente Nachwort sowie der umfangreiche Anmerkungsapparat von Anselm Bühling in der hier rezensierten Ausgabe.

Was an Schklowskijs Stilvorstellungen für Olga Radetzkaja relevant war, hat sie glücklicherweise in einer vorzüglichen übersetzerischen Nachbemerkung selbst dargelegt. Sie betont die wichtige Rolle, die die Sprache in Schklowskijs Schreiben spielt, auch und vor allem, weil Schklowskij als Hauptfigur sich auf seinen Reisen ein ums andere Mal selbst verliert, wie er selbst schreibt (S. 220). Die Sprache und der Stil treten somit an die Stelle, die in einer Auto-Biographie eigentlich dem Ich des Erzählers zukäme, nämlich den Text von innen und außen zusammenzuhalten.

Im Fall der „Sentimentalen Reise“ äußert sich dies jedoch nicht in gestelzten oder gar gesuchten Phrasen. Schklowskij missfiel im Gegenteil derartiges „künstliches“ Stilgepränge. Sein Verfahren läuft darauf hinaus, durch größtmögliche Knappheit in der Syntax und Lakonie in der Lexik einen Kontrast zu den übermächtigen Themen seiner Erzählung zu schaffen und somit die Leerstellen rund um diese vereinzelten (Ab-)Sätze umso deutlicher hervortreten zu lassen.

Den daraus resultierenden Anspruch, spröde, bröckelnd, fast schon ungelenk zu schreiben, löst Olga Radetzkaja sehr kunstfertig ein, so kunstfertig, dass der entstehende Text immerzu stockt. Ein Lektürerausch, ein Pageturner-Sog entwickelt sich so nicht (zumal wenn man in der russischen Geschichte so unkundig ist wie ich und zum Auspolstern des eigenen Unwissens immerfort zwischen dem Text und den – glücklicherweise dicht gesäten – Anmerkungen hin- und herspringen muss).

Dies ist auch der hauptsächliche Unterschied zwischen der bisher vorliegenden, 1974 im Insel Verlag erschienen Übersetzung der Reise von Ruth-Elisabeth Riedt und Gisela Drohla. (Neben einigen – allerdings eher kurzen – Passagen, die in der damaligen Ausgabe gestrichen waren und nun den Verlag zu dem richtigen, aber etwas vollmundigen Werbeclaim veranlassten, nun liege die „erste vollständige Neuübersetzung“ vor.)

Riedt und Drohla übersetzten Schklowskijs Memoir in ein historisches Plauderbüchlein. Sie gaben ihrem deutschen Schklowskij  mehr sinnerklärende Partikeln, mehr Lesefluss, mehr stilistisches Raffinement und dadurch weniger ironische Selbstdistanz. An einem wahllos herausgegriffenen Absatz wird das deutlich:

Riedt/Drohla, S. 210: „20. Mai 1922. Ich schreibe weiter. Ich hab schon lange nicht mehr so viel geschrieben, es ist, als bereite ich mich darauf vor, zu sterben. Sehnsucht und eine rote Sonne. Abend.“

Radetzkaja, S. 216: „20. Mai 1922. Ich schreibe weiter. Ich habe lange nicht so viel geschrieben, es ist, als hätte ich vor zu sterben. Mein Herz ist schwer, die Sonne ist rot. Es wird Abend.“

Wirkungen mögen verschieden sein, aber mir zumindest kommt es vor, als habe den oberen Satz ein sechzigjähriger Dichter geschrieben, den unteren ein zwanzigjähriger Student. Schklowskij war 1922 neunundzwanzig.

Olga Radetzkaja stand mit ihrem Text vor ganz ähnlichen Herausforderungen wie der im letzten Beitrag besprochene Ernest Wichner: Der lakonischen Darstellung schrecklicher Grausamkeiten in kurzen, kalten Hauptsätzen. Das Aufregende an ihrem Verfahren ist, dass sie zu einem völlig entgegengesetzten Resultat gelangt. Während es Wichner gerade darum ging, die Parataxe zum Schweben zu bringen und sprachlich zu veredeln, hat Radetzkaja jegliche Veredelung aus ihrem Schklowskij-Text abgeräumt. Das Stocken und Stolpern ist bei ihr literarisches Programm.

Wenn man sich auf dieses fordernde Leseerlebnis einlassen kann – und dazu lese man die Nachworte in der wunderschön produzierten Ausgabe der Anderen Bibliothek auf jeden Fall vorweg – dann hebt einen Radetzkajas wirkmächtiger Schklowskij aus dem gepolsterten Lesesessel und lässt einen auf dem harten Holzschemel der Realität nieder. Unwirtlicher ist es dort. Aber zugleich wirklicher.

Weiterführende Links

Ein zweiteiliges Radiofeature des Deutschlandfunks, in dem Schklowskij in Radetzkajas Übersetzung ausführlich zu Wort kommt: http://www.deutschlandfunkkultur.de/krieg-und-frieden-1918-1-2-die-friedensverhandlungen-von.976.de.html?dram:article_id=411910

Die Literaturkritik hat Frau Radetzkajas Leistung schändlicherweise ignoriert, daher anstatt irgendwelcher Rezensionslinks hier ein Text von Schklowskijs französischem Übersetzer Vladimir Pozner: http://www.pozner.fr/vladimirpozner-chkolvski.html

Und hier Walter Benjamins sinnreiche Kritik von Pozners französischer Übersetzung: http://gutenberg.spiegel.de/buch/kritiken-und-rezensionen-1912-1931-2981/47

NÜLB 1: Ernest Wichner

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Cătălin Mihuleac: Oxenberg & Bernstein. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Paul Zsolnay Verlag 2018. 366 Seiten. https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/oxenberg-und-bernstein/978-3-552-05883-5/

Vorbemerkung

NÜLB – dieses Kürzel sorgt jetzt und in den kommenden Wochen dafür, dass die Titel meiner Blogbeiträge nicht zu lang werden. NÜLB steht für: Die Nominierten zum Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse. (Ganz korrekt müsst es heißen: Die Nominierten zum Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung, aber NPLBidKÜ wäre wirklich nicht mehr lesbar.) Fünf Bücher sind in dieser Kategorie vor eineinhalb Wochen nominiert worden, eines von ihnen wird am 15. März vor den Augen Literaturdeutschlands prämiert.

Als Handreichung für alle, die keine Zeit oder Lust haben, sich in die fünf NÜLBs einzulesen, die aber dennoch an gelehrsamen Diskussionen vor und nach der Preisverleihung teilnehmen wollen, werde ich diese in den kommenden vier Wochen hier vorstellen. Die Titel sind zum Großteil aus Sprachen übersetzt, derer ich nicht mächtig bin, daher kann die Übersetzungskritik nur hier und da so detailliert ausfallen können, wie ich selbst es mir wünschen würde. Aber gleiches gilt wohl auch für die Jury. Juror Burkhard Müller, der auch in diesem Jahr wieder an der Entscheidung beteiligt sein wird, hat den Grundsatz der Entscheidungsfindung in einem Interview mit dem Deutschlandfunk 2017 beschrieben, und an das, was er damals sagte, will auch ich mich halten, wenn ich an dieser Stelle über die NÜLBs 2018 schreibe.

„Irgendwelche Übersetzungsfehler kriegen wir […] natürlich nicht ins Visier, aber das ist nicht das Entscheidende – sondern, ob die Differenz von Zeit und Raum so gelöst worden ist, dass man sagen kann, dieses Buch kann man heute lesen. Es ist ja ein Preis des Buchhandels, das heißt: Der Leser steht im Blick.“

Das Buch

Oxenberg & Bernstein erschien auf Rumänisch unter dem Titel America de peste pogrom im Jahr 2014. Der Autor, Cătălin Mihuleac, stammt aus der Stadt Iași, die im Zentrum dieses Romans steht. Wie in einem Brennglas, unter dem Zusammenhänge und Vorgänge vergrößert und verlangsamt hervortreten, beleuchtet sein Roman einen barbarischen, aber in Deutschland wenig bekannten Pogrom, der sich unter der Gewaltherrschaft Ionescus im Jahr 1941 dort abspielte und dem entweder direkt vor Ort oder infolge von Deportationen tausende Menschen zum Opfer fielen.

Mittels einer geschickt verklammerten Doppelhandlung – die zwei Namen Oxenberg und Bernstein sind die Namen der zwei Familien, deren Geschichte abwechselnd erzählt wird – zieht Mihuelac seine Leser in die Geschichte hinein. Suzy Bernstein, die Ich-Erzählerin der im 21. Jahrhundert spielenden Bernstein-Handlung, fungiert dabei als Vehikel, das uns immer näher an den historischen Stoff heranführt. Das eigentliche Interesse des Autors – und gegen Ende des Romans auch immer mehr seiner Hauptfigur Suzy – gilt aber der Geschichte, die anhand der Familie Oxenberg erzählt wird, der Geschichte des Progroms von Iași.

Wie diese zwei über weite Strecken getrennt mäandernden Handlungsströme am Ende zusammenfließen, soll hier nicht verraten werden. Mihuelac ist es auf diese Weise jedenfalls gelungen, eine spannende, manchmal unterhaltsame, in den dramatischen Beschreibungen jener brutalen Junitage auch schockierende und in ihrer ganzen Vielfalt und Wirkmacht eindrückliche Darstellung jenes Pogroms zu verfassen, die das Potenzial hat, weite Leserkreise für diesen bis heute offenbar in Rumänien gerne unter den Teppich gekehrten Teil der rumänisch-deutsch-europäischen Geschichte zu interessieren. Man darf davon ausgehen, dass dies das zentrale Anliegen des Buches ist.

Die Jurybegründung

„Die Heldin Suzy haut auch verbal ordentlich auf die Pauke: Sie versteht sich auf fein ziselierte Beobachtungen und kleine Bosheiten in verschlungenen Satzperioden. Ein elegantes, facettenreiches Deutsch, dem man genauso verfällt wie Suzy ihrem Amerikaner.“

http://www.preis-der-leipziger-buchmesse.de/de/Nominierungen/Uebersetzung/Ernest-Wichner-uebersetzte-aus-dem-Rumaenischen-C_t_l_n-Mihuleac-Oxenberg-und-Bernstein/

Der Übersetzer

Ernest Wichner ist ein Schwergewicht im Literatur- und Übersetzungsbetrieb, erfahrener und renommierter Übersetzer aus dem Rumänischen, bis vor Kurzem Leiter des Literaturhauses Berlin, jetzt im produktiven Ruhestand. Zur Buchmesse mit dem Gastland Rumänien – hier ist er auch als Fachberater der Messe tätig – hat er noch drei weitere Übersetzungen aus dem Rumänischen herausgebracht: Zwei Gedichtbände von Iulian Tănase und Daniel Bănulescu sowie einen Erzählungsband von Varujan Vosganian. Er ist zum ersten Mal im illustren NÜLB-Kreis vertreten.

Lieblingssatz

„Jedes karpatho-danubiale Walross legt Wert darauf, dir klarzumachen, dass es Sport getrieben hat.“ (S. 161)

Die Übersetzung

Übersetzungen spielen in Oxenberg & Bernstein  eine große Rolle: Frau Oxenberg ist Übersetzerin, geht mit einer zweitausendseitigen Übersetzung rumänischer Literatur ins Deutsche (!) hausieren, für die sich zunächst niemand interessiert, die dann, mit den Nazis hinterm Horizont, immerhin für einige Zeit zum Schutzschild für sie und die Familie wird, die dann aber – welch unauslöschliches, vor Bitterkeit triefendes Bild – im überfüllt gen KZ rollenden Güterwaggon nur noch als Klopapier zu gebrauchen ist. Mit der im naiven Gutglauben mitgenommen Übersetzungsausgabe zerfleddern am Ende auch die Hoffnungen der malträtierten Juden auf irgendeine Rettung.

Aber nicht nur auf dieser konkreten Ebene, auch implizit handelt der ganze Roman von Übersetzungssituationen. Rumänisch–Englisch–Deutsch–Russisch sind die vier Sprachen, die im Hintergrund der Handlung stehen und immer wieder aufscheinen, wenn Figuren von Washington nach Wien oder Warnemünde jetten und sich in ungewohnten Verhältnissen zurechtfinden müssen. Seine Übersetzung denkt der Roman also von Anfang an mit.

Ernest Wichner hat in einem Interview gesagt, dass er zunächst Zweifel hatte, ob der Roman mit seinem „saloppen“ Stil sprachlich seinem ernsten Gegenstand gerecht würde. Ein Jahr Bedenkzeit habe es gebraucht, bis er das Buch doch empfohlen und dann ins Deutsche übersetzt habe. Wird er als Übersetzer nun dem Gegenstand gerecht? Welchen Stil hat er gefunden? Definieren wir zunächst kurz, was mit diesem Wort gemeint sein könnte.

Wenn wir beim Lesen bewundernd und beim Übersetzen ehrfurchtsvoll von „Stil“ sprechen, dann verwechseln wir, geblendet vom eitlen Gepränge erläuternder Nebensätze, derer wir selbst uns niemals fähig wähnten, und aufgeblasener Einschübe, die doch nur das Verstehen hinauszögern, diesen Begriff oft mit hypotaktischen, fein austarierten und von Partikeln und Adverbien präzise im Gleichgewicht gehaltenen Satzkunstwerken, die zu übersetzen – so raunen wir uns hinter vorgehaltener Hand zu – doch ohnehin aussichtslos sei, oder, wenn man es dann zuwege bringe, die höchste Kunst des Übersetzens.

Falsch. Oder zumindest: Unvollständig. Ernest Wichner beweist, dass kurze Sätze ebenso große Könnerschaft erfordern wie lange. Er zeigt, dass guter Stil nichts mit der Frequenz der Punkte im Text zu tun hat, sondern nur mit der Frequenz jener sprachlichen Knackpunkte, die es beim Übersetzen zum Knacken, zum Prickeln zu bringen gilt.

Die Ich-Erzählerin Suzy Bernstein beschreibt ihren eigenen Sprachstil in ihrem fiktiven metapoetischen Vorwort als „buchhalterisch“ (S. 10). Das stimmt, ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Buchhalterisch-parataktisch, man könnte auch sagen, salopp legt sie die Geschehnisse dar. Darin steckt jedoch ein künstlerisches Konzept. Ihr Vorbild ist die Minimal Art. Die minimalistischen Hauptsätze und Ellipsen, in denen Suzy schreibt und spricht, gilt es demgemäß zu Kunst zu machen. Sie zum Schwingen zu bringen.

Wie auch immer Suzy auf Rumänisch spricht und schreibt – dies liegt wie erwähnt außerhalb meines Einschätzungsvermögens – in Wichners deutschem Text gelingt dies auf ganzer Linie. Passgenau manövriert er zwischen den bedrohlichen Klippen einer zu primitiv-saloppen Ausdrucksweise einerseits und einer pseudo-literarischen Verbrämung andererseits hindurch. Seine Übersetzung ist Minimal Art.

So tritt Wichner den Beweis an, dass es eines Künstlers bedarf, um das Einfache einfach zu machen. Hypotaxe kann man ja lernen: den Zusammenhang und -klang der Nebensätze und Einschübe, die Gravitationslehre der Grammatik. Aber Parataxe? Wo ständig ein Punkt den Gedankenstrom unterbrechen will, muss man auf die Wörter selbst lauschen und ihnen die Kraft geben, Satz um Satz, von Punkt zu Punkt hüpfend, in Bewegung zu bleiben.

Auch lexikalisch schöpft er aus dem Vollen: er weiß die Kulturwelt der Dreißigerjahre ebenso treffend zu zeichnen wie das Amerika der 2000er, er lässt die einfachen Angestellten im Hause Oxenberg ebenso glaubwürdig sprechen wie die Ärzte und Intellektuellen, die US-Amerikaner auf der anderen Seite des Atlantiks ebenso wie die Rumänen, er scheut auch vor krassen Vulgarismen nicht zurück und macht uns die verschiedenen Zeitebenen seines Textes so plastisch und unmittelbar zugänglich. Der rund achtzig Jahre vor unserer Zeit spielenden Handlung verleiht er mit einem „wiewohl“ hier und ein bisschen Konjunktiv I dort Patina, ohne dass es je antiquiert klänge.

Kurz: Wichner hat Oxenberg & Bernstein mit Herz und Verstand übersetzt, möglicherweise sogar eine Nuance weg vom Unterhaltungs- oder historischen Aufklärungsroman hin zum literarischen Kunstwerk bewegt, ohne sich dabei als neuer Autor zu gerieren. Wer sich für das Übersetzen als Prozess interessiert, der einen Textkorpus ernst nimmt und ihm – im Dienste des Inhalts – einen neuen Anzug maßschneidert, der lese also und lerne.

Links zum Weiterlesen

Eine Kritik der „Presse“: https://diepresse.com/home/kultur/literatur/5361566/Traeume-enden-mit-dem-Erwachen

Leseproben: http://buchhandel.hanser.de/index.asp?isbn=978-3-552-05883-5&nav_id=763475834&nav_page=2

Ein RBB-Interview mit Ernest Wichner: http://mediathek.rbb-online.de/radio/Kulturradio-am-Nachmittag/Ernest-Wichner-Literaturhausleiter-Sch/kulturradio/Audio?bcastId=9839134&documentId=48415714

Ein Interview mit Ernest Wichner über die Leipziger Buchmesse und seine neuen Übersetzungen: http://www.leipziger-buchmesse.de/Buecherleben/Rumaenien-erlesen.html

 

 

Rezension: The Translator/Die Übersetzerin

Was unterscheidet eine gelungene Übersetzung von einer missratenen? Gibt es profundere Kriterien zur Analyse und Würdigung eines in unsere Sprache überführten Textes als kleinliche Bedeutungsklauberei einerseits und großtuerische Stilkritik andererseits? Stellt womöglich der Text einer Vorlage, wenn man ihn als im Wortsinne auto-nomes Gebilde auffassen kann, als Kunstwerk also, das seine eigenen Gelingens- und Scheiternsbedingungen definiert, auch der Übersetzung solche Bedingungen? Und schließlich: Kann auch eine Übersetzung selbst sich – in Autonomie gegen die Heteronomie der Vorlage – derartige Kriterien geben?

Auf derlei Grundfragen des Übersetzens und der Übersetzungskritik wirft der vorliegende Roman, dessen sich 15 Jahre nach Erscheinen in den USA nun der Golkonda-Verlag und sein Übersetzer André Taggeselle angenommen haben, neues Licht.

Der Autor John Crowley, 1942 geboren, hat sich im Genre der anspruchsvoll-verschrobenen Science-Fiction und Fantasy einen Namen gemacht – seine ersten drei Romane sind schon ins Deutsche übersetzt –, weshalb die Handlung des Romans zunächst überrascht. Statt in mittelalterliche oder weit in der Zukunft liegende Welten versetzt er uns gleich mit dem ersten Satz in die jüngere Vergangenheit, die Zeit des kalten Krieges.

The first time that Christa Malone heard the name of Innokenti Isayevich Falin, it was spoken by the President of the United States, John F. Kennedy.

Zum ersten Mal hörte Christa Malone den Namen Innokenti Issajewitsch Falin aus dem Mund des US-Präsidenten John F. Kennedy.

Das Personaldreieck im Hintergrund der sich nun entwickelnden Handlung ist damit vorgezeichnet. Christa Malone, genannt Kit, Highschool-Absolventin und angehende Lyrikerin, beginnt ihr Studium am College. Schnell entwickelt sie eine Faszination für ihren Poetikdozenten Falin, einen russischen Dichter, der unter mysteriösen Umständen aus der UdSSR verbannt worden ist und im Amerika der Kennedy-Zeit Exil gefunden hat..

Falin erwidert diese Faszination bald, und als Kit in einem Ferienkurs Russisch lernt, bittet er sie, ihr bei der Übersetzung seiner Gedichte ins Englische behilflich zu sein. Aus dem intensiven Arbeitsverhältnis – ein ganzes Kapitel im zweiten Teil gleicht einer protokollierten Lektoratssitzung – wird schnell eine Liebesbeziehung, aber bevor daraus mehr werden kann, brechen die Zeitläufte über das heimliche Paar herein. Die Kuba-Krise eskaliert und Falin, der als exilierter Russe in Amerika immerfort unter Spionageverdacht steht, verschwindet auf so geheimnisvolle Weise, wie er gekommen ist.

Dies ist das Handlungsskelett eines Romans, der mit Nebensträngen, Zeitebenen und philosophischen Abschweifungen nicht geizt, der Coming-of-Age-Geschichte, geschichtsphilosophisches Traktat, College-Roman und metapoetische Reflexion in einem sein möchte und uns über Motivation, Fortgang und Ziel dieser Geschichte oft genug im Unklaren lässt.

Was in den verschiedenen Dialogen zwischen Falin und Kit jedoch klar wird, ist die eigentümliche, zunächst pessimistisch wirkende Übersetzungsphilosophie des Dichters. Kit, die ihm erzählen will, dass sie ein Gedicht von ihm gelesen habe, muss sich Folgendes anhören:

My poem,” he said, “was a poem in Russian. The poem in the book was a poem – perhaps a poem – in English. This I believe you read.”
Was it a bad translation?”
I can’t say”, he said.

„Mein Gedicht“, erklärte er, „war ein Gedicht in russischer Sprache. Das Gedicht in diesem Buch ist ein Gedicht – vielleicht ein Gedicht – auf Englisch. Ich glaube, das ist es, was Sie gelesen haben.“
„War die Übersetzung nicht gut?“
„Das kann ich nicht sagen“, erwiderte er.

Diese Übersetzungsskepsis gemahnt – ins Praktische gewendet – zu äußerster Bescheidenheit; gerade beim Übersetzen von Gedichten hält Falin nichts von gekünstelten Versuchen, Reimschemata zu erhalten, wenn sie sich nicht zufällig ohnehin ergeben. Und die Rohübersetzungen, die Crowley im Buch immer wieder zitiert, sind dann auch genau das: schlichte, reim- und geradezu kunstlose, prosaartige Werke, hinter denen man als des Russischen unkundiger Leser die ihnen zugeschriebene immense Wirkung nur vermuten kann.

Doch Falins Programm ist doppelgesichtig: Es hebt die Übersetzung andererseits auch auf eine Stufe mit dem Original, sofern sie sich der Hoffnungslosigkeit ihres Unterfangens bewusst wird.

[…] You cannot translate. You can only make other poems.”
[…] “Then what’s the original?”
I don’t know. Perhaps there is not one. Perhaps there are many translations but no original.”

„[…] Man kann sie [die Gedichte, FP] nicht übersetzen. Man kann nur neue Gedichte daraus machen.“
[…] „Aber welches ist dann das Original?“
„Ich weiß es nicht“, sagte er. „Vielleicht gibt es nicht bloß eines. Vielleicht gibt es viele Übersetzungen, aber kein Original.“

Und so verschwindet auch Crowley als Autor hinter den „übersetzten“ Schichten seines Romantextes. Mit der Hoffnung, die „echten“, russischen Gedichte Falins zu Gesicht zu bekommen – es gibt sie nicht –, muss der Leser auch die Hoffnung begraben, tieferen Sinn in dieser gegen Ende ins epenhafte Mysterienspiel abgleitenden Handlung zu erkennen. Translations without Original ist der Titel von Kits erster Veröffentlichung als Lyrikerin, und eigentlich wäre das auch ein guter Titel für diesen Fass-ohne-Boden-Roman gewesen: Übersetzungen ohne Original.

Denn in dieser paradoxen Erkenntnis steckt der Kern des Buches, das um Sprach-, Übersetzungs- und interkulturelle Anpassungsprobleme kreist wie die Übersetzerin um ihren Autor, wie Kit um Falin, wie Kennedy und Chruschtschow umeinander und um diese ihre Berater: Überall Missverständnisse, überall Einsamkeit, überall – als verlorene kleine Sisyphoswichtel, letzte Hoffnung, vergebliche Hoffnung – Übersetzer.

Der Übersetzer, mit dem wir es als Leser der deutschsprachigen Fassung zu tun haben, André Taggeselle, weiß um die Vertracktheit seiner Aufgabe. Er weiß, dass er gemäß Falins/Crowleys eigener Philosophie dem Buch ein zweiter Autor werden muss, dass ein ambitionsloses Vorgehen einem solchen Text nicht gerecht würde.

Taggeselle weiß auch um die Probleme seiner Vorlage: Slang-Unterhaltungen unter den Studierenden, tiefsinnige Konversationen zwischen Falin und Kit, philosophische Spekulationen des Erzählers und nüchterne Politberichte stehen oft unvermittelt nebeneinander, ohne dass sich der Eindruck einer souverän alles verklammernden Erzähleridee aufdrängt.

Der deutsche Text liest sich im Vergleich ebenmäßiger, als hätte der Übersetzer durch die wilden Klüfte, die Crowley vor ihm aufbaute, eine fahrbare Straße gelegt. Die stilistischen Extreme im englischen Text nähert er im Deutschen aneinander an: die deutsche Erzählstimme versteigt sich nicht so tief in ihre Grübeleien; Kit, ihre Zimmergenossin Fran und ihre kommunistischen College-Freunde sprechen etwas förmlicher und Falins russischer Akzent wird eher angedeutet als konsequent durchgeführt.

Gerade Falin, die unverkennbare Hauptfigur des Romans, ist im Original als schwankender Charakter gezeichnet; manchmal sympathisch, meistens eher unheimlich, mindestens unnahbar, stark charakterisiert durch seinen telegrammartigen Hauptsatzstil (man erinnere sich an die oben zitierten Dialogbeispiele), aber durch seine nebulöse Vorgeschichte auch unfasslich und seltsam unpersönlich, engelsgleich. Dass Kit einem solchen Menschen Hals über Kopf verfallen kann, erschließt sich jedenfalls aus dem englischen Roman nicht.

Taggeselles Falin, der weicher, zugänglicher, nuancenreicher spricht, ist kein von irgendjemandem eingesetzter dunkler Engel, sondern eine nahbare Figur, in die man sich mit Kit gemeinsam verlieben kann und über deren Verschwinden man mit ihr trauert.

Insgesamt entsteht auf diese Weise ein gestraffter, unambitionierter, geradezu frugaler Text, der zwar ein aufmerksameres Lektorat verdient gehabt hätte (das Fehlen sämtlicher Kursivierungen im Fließtext macht die Lektüre stellenweise holprig und auch einige flüchtige falsche Freunde sind ärgerlicherweise geblieben), der sich aber flüssig liest und aus dem die Konstruktionsschwächen des englischen Texts weniger eklatant hervortreten.

Darüber hinaus entsteht im Deutschen auch ein überraschender Moment von großer Poesie, die im Englischen verborgen bleiben musste: Taggeselle setzt den Moment, in dem Falin und Kit vom „Sie“ zwischen Lehrer und Schülerin zum „Du“ eines Liebespaars übergehen – ein sprachlich unvermeidbarer, aber übersetzungstechnisch heikler Eingriff –, just kurz vor eine Reflexion von Kit über den Unterschied der alten englischen Anreden „you“ and „thou“. So verweben sich auf fast magische Weise Leben und Dichten der Protagonistin.

Man hält also mit der Übersetzung einen Text in Händen, der sich – und das ist keine Selbstverständlichkeit – formal auf der Höhe seines eigenen Inhalts bewegt. Ja, die deutsche „Übersetzerin“ ist eine gewagte Interpretation der (oder des, im Englischen bleibt das geschlechtlich unbestimmt) „Translator“, und wer gewagte Übersetzungen scheut, der greife wohl besser zu John Crowleys englischer Version der Geschichte.

Wer aber Falins Lektion beherzigt und der Übersetzung gleichen Rang mit dem „Original“ einräumt (sofern man nach der Lektüre mit diesem Begriff überhaupt noch arbeiten kann), dem bietet Taggeselles „Übersetzerin“ auch ohne Kenntnis der Vorlage ein Mehr gegenüber Crowleys Text, ein Lektüre-Wagnis, ein Puzzlespiel der tiefengestaffelten Übersetzungen, und ein spannendes Lesevergnügen obendrein.

Wenn Falin und Crowley ihre Forderung nach Selbst-Aufgabe und Wagemut im Lesen, Übersetzt-Werden und Übersetzen ernst gemeint haben, dann werden sie uns Taggeselles deutsche Version ihrer Geschichte genauso ans Herz legen wie die englische.

 

John Crowley: The Translator. New York City: William Morrow 2002.

John Crowley: Die Übersetzerin. Deutsch von André Taggeselle. München: Golkonda Verlag 2017.

Weihnacht

Emilia Pardo Bazán 1896, Ü Felix Pütter 2017

Dies ist eine Geschichte aus dem 16. Jahrhundert, aus einer jener italienischen Städte, die von einem Tyrannen beherrscht wurden. Nennen wir sie, wenn ihr einen Namen verlangt, Montenero, und den Tyrannen Orso Amadei.

Orso war ein Mann seiner Zeit: wild, herzlos, verlogen im Groll, unerbittlich in der Rache. Als mutiger Kämpfer, unübertroffener Gönner und feinsinniger Kunstfreund richtete er, ähnlich den Medicis, zu Ehren von Malern und Dichtern Palastfeste aus und empfing in seinem Privatgemach die zwielichtigen Alchemisten jener Zeit, die sich – versuchten sie nicht gerade, Gold herzustellen – vortrefflich auf die Destillation wirksamer Gifte verstanden.

Geriet ein Edelmann in Orsos Weg, dann ließ er ihn zu sich bringen, schwor ihm Freundschaft, teilte beim Abendmahl – ein schrecklicher Frevel! – seine Hostie mit ihm, ließ ihn an seinem Tisch sitzen … und noch während des Banketts erhob sich der Gast mit verdrehten Augen und Schaum vor dem Mund, nur um wieder und wieder vor Schmerzen zurück in den Stuhl zu fallen … und der Gastgeber ergriff mit geheuchelter Hilfsbereitschaft seine Hand, um sicherzugehen, dass ihm das Eis des Todes schon durch die Adern rann.

Einfache Leute kamen nicht in den Genuss derartiger Zeremonien: sie ließ er pfählen oder im Kerker verschmachten.

Orso war zweifacher Witwer: seine erste Frau hatte er erdolcht, aus Eifersucht; die zweite – die einzige, die er liebte – wurde von Landolfo dei Fiori, dem Bruder der ersten, aus Rache ermordet. Jene hatte keine Nachkommen hinterlassen, diese hingegen schon, ein Mädchen und zwei Jungen. Die Jungen kamen in einem nie aufgeklärten Scharmützel ums Leben, einem Hinterhalt, den womöglich ebenjener Landolfo gelegt hatte, und so war es an der kleinen Lucia, die verfluchte Familie der Amadei fortzuführen.

Der Vater war schon auf der Suche nach einer guten Partie für Lucia, als sie entschied, dass sie ins Kloster gehen wolle. Das brachte Orso zum Verzweifeln, denn auf seine eigentümliche Weise war er vernarrt in diesen letzten Spross seines Geschlechts; allein, es half nichts; der Wille Lucias setzte sich durch und das Mädchen trat in ein Dominikanerkloster ein, in dem schon jene Katharina, genannt Eufrosina, aufgeblüht war, der alle Welt heute als Heilige Katharina von Siena huldigt.

Das zarte Alter, die liebliche Schönheit und die erlauchte Abstammung der Tyrannentochter trugen ihr Übriges zum allgemeinen Erstaunen über ihre Sühne bei. In einer Zeit, die sich schon von der Kirche abwandte, kehrte sie zu den harten Sühnebräuchen frommerer Zeiten zurück.

Sie ernährte sich von einer Handvoll gekochter Kräuter; sie schlief auf zwei Säcken ohne Stroh; sie trug einen groben zilizianischen Überwurf, der die zarte Haut reizte; und wenn sie in einer Januarnacht zum Gebet aufstand, nach einer Stunde Ruhe auf feuchten Steinen, die ihr alle Knochen brachen, konnte sie vor Schwäche kaum stehen und verwechselte die Gebetsworte im Munde.

Denn Lucia, die nun einmal von den Amadeis abstammte, war nicht zu Buße und Leid geboren, sondern dazu, die Freuden des Lebens auszukosten, sich am lieblichen Klang der Mandoline zu erfreuen, am wohlklingenden Rhythmus der Stanzen der Dichter, am Zauber der Farben, an der geheimnisvoll-süßen Ruhe der Gärten, wo griechische Statuen in ewiger Schönheit erstrahlten. Nur die Schwere fremder Schuld und der Wunsch, dafür zu büßen, hatten sie, vor Angst und Schrecken zitternd, zu Füßen der Altäre gezerrt, wo ihr die Erinnerungen an die Welt und ihre Freuden unentwegt im Gedächtnis herumgingen.

Wie schon Katharina von Siena wurde sie mehr als einmal von unzüchtigen Versuchungen und höhnischen Trugbildern heimgesucht; aber fest ans Kreuz geklammert, widerstand sie heldenhaft; sie heulte, sie zerkratzte sich das Fleisch und endlich senkte sich siegreich Friede über ihren Geist­. Auf die Ohnmacht folgte unerklärliche Entzückung und Süße, und Lucia fühlte sich getröstet.

Bald war Weihnachten, der Jahrestag ihres Gelübdes. Der Heilige Abend kam, und mit ihm ein Schneegestöber; aber je schwerer das weiße Leichentuch auf dem Klostergarten lastete, desto wärmer wurde es Lucia in ihrer Einzelzelle; dank einer wunderbaren Illusion war es ihr, ­als rieselten draußen vor den Bleifenstern nicht Schneeflocken auf die Zweige der Bäume und den harten Erdboden, sondern Abertausende reine Lilienblüten, fein wie Federn aus Engelsflügeln.

Alles war mit Lilien bedeckt, und die Helligkeit, die der weiße Garten verströmte, erleuchtete die Zelle mit Mondenstrahlen, greller und strahlender noch als Silber. Plötzlich erblickte Lucia ein entzückendes Kind, eingehüllt in Wellen sanften Lichts; ein lächelndes Wesen mit ausgestreckten Ärmchen, die die Nonne in Entzückung versetzten, als sie es in Empfang nahm.

„Heute Nacht“, sagte das Kind mit liebevoller Stimme, „will ich dir eine Gunst erweisen, Lucia, und nicht in der Krippe, sondern in dieser Zelle zur Welt zu kommen, in der du mich so oft angerufen hast.“

Lucia blieb für ein paar Augenblicke ungläubig stehen; diese Gunst war außergewöhnlich, und in ihrer Bescheidenheit wähnte sie sich einer solchen nicht würdig. Als sie wieder zu sich gekommen war, faltete sie sogleich die Hände und warf sich flehend vor dem Christkind zu Boden.

„Willst du deine Dienerin glücklich machen, Kind, mein Herzenskind … so gewähre mir, was ich von dir erbitten werde. Ach! Es ist eine große und schwierige Sache, aber wenn du das Unmögliche nicht vollbringen kannst, wer dann? Gedenke all meiner Kämpfe, gedenke meiner Leiden … erbarme dich meiner und komme nicht hier auf die Welt, sondern an einem anderen dunklen, schrecklichen, verlassenen Ort … im Herzen meines Vaters, Orso Amadei.“

Das Christkind streichelte der Büßerin mit seinen kleinen Händchen übers Gesicht und sah sie voll Traurigkeit an.

„Weißt du, worum du da bittest, Lucia? Weißt du, dass dieses Herz, in dem ich nach deinem Willen das Licht der Welt erblicken soll, noch härter ist als Stein, noch blutiger als ein Schafott, noch übler als ein Grab? Weißt du, dass ich, um dort einzudringen, mit meinem nackten Körper Dornen, Kletten und giftige Pflanzen durchqueren muss, während sich Schlangen um meinen Hals winden und mir eisige Reptilien die Beine hochklettern? Ja, verloren habe ich mein Leben auf niederträchtigste Weise; aber für meine Geburt suchte ich einen warmen, weichen, liebevollen Ort; ins Leben kam ich unter einfachen Hirten, nicht unter blutrünstigen Wölfen! Doch ich will nicht viele Worte machen, Lucia, und dir, die du deinen Kampf für mich schon ausgefochten hast, deinen Wunsch nicht versagen … Heute Nacht wird mir das Herz jener Bestie, deines Vaters, zum Stall zu Bethlehem werden!“

Als Lucia das Versprechen des Kindes hörte, überwältigte sie ein plötzlicher Wonneschauer. Sie fiel reglos auf den Steinboden. Das Licht, die Erscheinung, der Lilienduft, alles verschwand, und vor den Bleifenstern sah man nur noch den Garten in seinem Totenhemd aus Schnee.

Zu derselben Stunde feierte Orso Amadei in seinem Palast ein Fest; nein, nicht „Fest“ sollte man sagen, sondern „Orgie“. Dies war keines jener Festmähler, bei denen Aphorismen und Anekdoten die Stunden verfliegen ließen, keines, bei dem die Anwesenheit von Damen zur Galanterie anhielt und die Rohheit der Männer im Zaum hielt. Solcher Festmähler hatte Orso viele gegeben; ihm sagten jedoch auch jene anderen, zügellosen Gelage zu, an denen nur seine zwielichtigen Hauptmänner, Strolche und Handlanger teilnahmen, unverschämtes und perverses Volk.

Wenn sich unter ihnen doch eine Frau fand, dann war es die arme Gauklerin, die sie auf dem Marktplatz überrascht hatten und die am nächsten Tag, nachdem sie sich von den Abendgästen hatte erniedrigen lassen müssen, in irgendeiner Gosse wieder auftauchte, am ganzen Körper blau, halb tot. In jener Nacht hatte Ridolfi, einer der Hauptmänner Orsos, eine noch bessere Beute angekündigt: ihm war soeben ein wunderschönes junges Mädchen in die Hände gefallen – wer so spät noch draußen herumstreunte, der dürfe sich nicht wundern! Diese Verlautbarung sorgte für einige Unruhe in der Gemeinde der Säufer; Orso befahl mit schallendem Gelächter, das Mädchen hereinzubringen. Gestoßen von den Soldaten kam sie herein, sie zitterte, ihr blondes Haar war zerzaust, und die Männer waren außer sich, als sie vor sie trat, denn sie war in der Tat von anmutigster Schönheit.

Orsos schamloser Blick durchbohrte sie; er streckte die Hand aus, strich ihr durch die goldenen Locken … und erstaunt fuhr er zurück; in diesem schutzlosen Mädchen, das ihm da gegenüberstand, wehrlos allen Misshandlungen ausgeliefert, erkannte er das Gesicht seiner Tochter Lucia, die gleichen Züge, die Wangen, die Stirn vor Scham errötet.

„Lasst diese Frau frei“, rief Orso. „Man gebe ihr Ehrengeleit bis zu ihrem Haus. Niemand füge ihr Schaden zu … Wehe dem, der ihr auch nur ein Haar krümmt! Man behandle sie wie mich selbst …“

Die Trunkenbolde, ganz verdutzt, gehorchten verständnislos. Das Fest wurde fortgesetzt; aber Orso rührte seinen Kelch nicht mehr an. Ridolfi wollte ihn aufheitern und gab ein Zeichen, das unverzüglich verstanden wurde und auf das hin man wenige Minuten später einen dem Verhungern nahen Gefangenen in den Festsaal brachte. Es war Brauch und Belustigung unter Orsos Mannen, einen solchen, dem man schon Tage zuvor die Nahrung versagt hatte, aus dem Kerker zu holen, ihn an den Tisch zu setzen, ihm feinste Speisen vorzusetzen und ihm diese dann, wenn er ansetzte, sie unter zufriedenem Heulen und Schluchzen hinunterzuschlingen, vor dem Mund wegzuziehen und dort stattdessen das brennend heiße Wachs jener Kerzen hineinzugießen, die die Orgie erleuchteten.

Der heutige Gefangene war jung, und Orso hielt ihm höhnisch eine dampfende Bratenplatte und ein Glas Lacrima entgegen; als er ihn aber von Nahem sah, stieß er eine Verwünschung aus. Die Augen im ausgemergelten Märtyrergesicht des Jünglings, die sich mit schmerzlichem Flehen an ihn hefteten, der Mund, der ihm dankte, waren der Mund und die Augen Lucias, ihr eigentümlicher Blick, den der Vater nicht verleugnen konnte, ein Blick von zärtlichem Glanz, Licht der Seele, auf der Suche nach seinesgleichen.

„Bindet ihn los“, befahl Orso. „Aber gebt ihm vorher zu essen, so viel er verlangt. Und schenkt ihm zwei Krüge voll Gold, und Wein, so viel er will … Man behandle ihn wie mich selbst … hört ihr? Wie mich selbst!“

Ridolfi, zähneknirschend, führte den Befehl aus. Fast genau zu dem Zeitpunkt, da der Gefangene den Festsaal verließ, erschien eine alte Frau mit einem Kindchen im Arm. „Hab Erbarmen, großer Herr“, rief sie aus, „hab Erbarmen mit dem Geschöpf vor deinen Augen. Dieser Kleine ist der Sohn deines Schwagers Landolfo dei Fiori, den du verabscheust, und einige Soldaten wollen ihn – angeblich auf deinen Befehl hin – an der Wand zerschmettern. Unmöglich warst du es, der solch grausamen Befehl gab, also stelle ich den Jungen unter deinen Schutz.“ Bei der Erwähnung des verhassten Landolfo erzitterte Orso vor Zorn, zückte seinen Dolch und schickte sich an, dem Kleinen die Kehle durchzuschneiden … aber dieser lächelte ihn ungerührt an, und sein Lächeln war das zauberhafte, unvergessliche Lächeln Lucias, aus jenen Kindertagen, wenn ihr Vater sie liebkoste. So übermannt, fiel Orso auf die Knie und begann unter Schlägen auf die Brust mit lauter Stimme seine Sünden zu bekennen; denn soeben hatte Jesus sein Versprechen eingelöst und war in jenem Herz, düsterer noch als der Höllenschlund, auf die Welt gekommen …

Am nächsten Morgen erreichte Orso die Nachricht, dass seine Tochter genau zur Mitternacht verschieden war.

Der Tyrann band sich einen Strick um den Hals und lief barfuß durch die Straßen der Stadt, um die Bewohner um Vergebung zu bitten, bis er, auf seinen Stock gestützt, langsam entschwand. Man hat nie wieder von ihm gehört. Selig sind die, in deren Herz der Heiland einkehrt!

  

Mit Dank an Susana Mogollón für wertvolle Hinweise.

Original: http://www.cervantesvirtual.com/obra-visor/cuentos-de-navidad-y-reyes–0/html/fee35e90-82b1-11df-acc7-002185ce6064_2.html#I_6_

Die Fliege

William Blake 1794, Ü Felix Pütter 2017

Fliegelein
Im Sommerwind
Ich wischt’ dich fort,
Wie war ich blind.

Gleich ich nicht
Dir, Fliegentier?
Und gleichst du nicht
Genauso mir?

Auch ich tanz’,
Sing’, trink’ beschwingt
Bis blinde Hand
Hinfort mich zwingt.

Wer denkt, der lebt,
Hat Kraft und Luft
Wer nicht mehr denkt,
Liegt in der Gruft;

So bin ich
Fliege, froh, gesund
Zur Lebens- wie
Zur Todesstund.

 

Original: https://www.poets.org/poetsorg/poem/fly